Presseschau – Regensburg – Zwei Nachrichten an einem Tag. Nachricht eins: Die Bundesregierung meldet den größten Einnahmen- Überschuss seit 1990, weil die Wirtschaft weiter wächst und die Steuereinnahmen entsprechend hoch bleiben.
Nachricht zwei: Die Armut in Deutschland bleibt laut dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands stabil, in einigen Bundesländern – darunter Bayern – wächst sie weiter. Auf den ersten Blick passen diese zwei Nachrichten nicht zusammen. Auf den zweiten Blick schon. Denn Wirtschaftswachstum beschert schon seit Jahren weiten Teilen der deutschen Bevölkerung keinen zusätzlichen Wohlstand mehr. Diese Entwicklung birgt eine Menge sozialer Sprengstoff – viel mehr als etwa die Flüchtlingskrise. Diese Entwicklung ist kein Zufall, sondern die Folge einer Politik der sozialen Kälte. Seit Jahrzehnten wird in Deutschland Reichtum von unten nach oben verteilt.
Die Einkommen von Arbeitnehmern werden heute stärker, die Gewinne von Unternehmern und Aktionären geringer belastet als früher: Für Arbeiter und Angestellte ist das Rentenniveau über die vergangenen 20 Jahre gesunken, Mehrwertsteuer und Krankenkassenbeiträge sind gestiegen (während letztere für die Arbeitgeber eingefroren wurden). Am Ende des Monats bleibt im Schnitt weniger Netto vom Brutto. Auf der anderen Seite ist die Körperschaftsteuer kontinuierlich gesunken, die Vermögenssteuer längst Geschichte – und bei der Erbschaftsteuer waren die Vorteile für Betriebserben so großzügig, dass das Bundesverfassungsgericht die Steuer kippte. Arbeitnehmer zahlen bis zu 45% Steuern auf ihr Einkommen, Aktionäre nur knapp über 25%. Hinzu kommt, dass seit Jahren dringend nötige staatliche Investitionen blockiert oder aufgeschoben werden – im Sinne der fast schon kultisch verehrten Schwarzen Null.
Ein Investitionsstau, der weniger reiche Menschen überproportional trifft: Weil sie keine Alternative haben zu maroden öffentlichen Schulen, weil viele Arbeitsplätze gerade für Nicht-Akademiker etwa mangels öffentlicher Bauaufträge einfach nicht entstehen. Auch das nach wie vor stabile deutsche Wirtschaftswachstum birgt eigentlich ein Drama der Arbeitnehmer: Durch niedrige Zinsen am Kapitalmarkt lohnt sich das Sparen kaum mehr – weswegen die Menschen ihr Gehalt lieber gleich ausgeben und so die Binnennachfrage stärken, aber andererseits viel weniger privates Vermögen aufbauen. Und nicht nur diese Nachwehen der Finanzkrise dopen das Wirtschaftswachstum: Ein großer Teil des Bruttoinlandsprodukt-Anstiegs um 1,7 Prozent im Jahr 2015 geht auf niedrige Rohstoffpreise und auf (zurecht) erhöhte Staatsausgaben im Zuge der Flüchtlingskrise zurück. Die deutsche Ungleichheit ist eine Schattenseite jener Agenda 2010, die dazu beigetragen hat, dass Deutschland die europäische Wirtschaftskrise viel besser überstanden hat als viele Nachbarländer.
Doch der Preis dafür wird immer höher. Und wenn die Politik nicht gegensteuert, wird er so hoch werden, dass auch die wohlhabenden Deutschen die Zeche zahlen. Nämlich, wenn den Verbrauchern das Geld nicht mehr so locker in der Tasche sitzt, weil Benzin und Kredite wieder teurer werden; wenn sich die soziale Schieflage so weit verschärft, dass Sicherheit und politische Stabilität in Deutschland ins Wanken geraten. Es ist höchste Zeit für einen Kurswechsel. Auf der einen Seite müssen Aktiengewinne stärker und Erbschaften gerechter besteuert werden, auf der anderen Arbeitnehmer entlastet: etwa durch die ernsthafte Abschaffung der kalten Progression, die selbst kleine Gehaltserhöhungen auffrisst – einWahlversprechen der Union, aus dem bisher nur ein minimal wirksames Reförmchen geworden ist. Es ist im Interesse aller, dass die Schere zwischen Arm und Reich wieder zugeht. Das ist keine Sozialromantik, sondern eine der großen Zukunftsfragen für Deutschland. Es ist und bleibt der letzte Zweck jeder Wirtschaft, die Menschen aus materieller Not und Enge zu befreien.
Das hat Ludwig Erhard geschrieben, konservativer Vater des Wirtschaftswunders, glühender Verfechter der Marktwirtschaft – und einer der klügsten Politiker, die dieses Land je regiert haben.